Der Mangel und die Fülle
von Sr. Josefa Thusbaß
Die Regen der letzten Zeit bescherten uns endlich wieder das satte Grün in seiner leuchtenden Fülle. Man mag gar nicht daran denken, dass diese Fülle in einigen Monaten schon wieder verschwindet. So etwas vergessen wir gerne und immer ganz schnell, so wie wir überhaupt Mangelzeiten des Lebens gerne und möglichst gründlich vergessen wollen. Doch tatsächlich bleibt erlebter Mangel in unserer Erinnerung tief eingeprägt zurück, denn jeder Mangel kann unverhofft lebensgefährlich werden. Die Evolution hat uns gelehrt, solche Gefahren überhoch einzuschätzen, um beizeiten für Abhilfe zu sorgen. Kein Wunder also, dass unsere Gedanken und Gespräche oft mehr um das kreisen, was uns fehlt, als um das, was uns gegeben ist. Selbst in guten Zeiten, in Zeiten äußerer Fülle, sind wir nicht frei von Mangelgefühlen. Mangel an Zuneigung, an Freundschaft, Mangel an Erfolg oder der innere Mangel an Selbstwertgefühl und dazu noch dieses nie ganz zufrieden zu sein. Der Mensch ein Mängelwesen?
Wir dürfen uns keiner Illusion hingeben, wir werden es in unserem Leben nicht schaffen, einmal „ganz“ zu werden, ganz heil, ganz zufrieden, ganz glücklich, so ganz und gar ohne Mangel. Es bringt nichts, abzuwarten, bis endlich alles passt, um dann mit dem Leben zu beginnen. Ein mangelfreier Zustand wäre auch kein Glücksfall, sondern ein tragisch-trauriger Zustand. Es wäre das Ende allen Sehnens und Suchens und allen Erwartens und es wäre das Ende unverhofft neuer Chancen – wahrlich, ein unmenschlicher Zustand. Doch eines ist sicher und ungemein tröstlich, der Mangel muss nicht unser Leben bestimmen, denn trotz allen Mangels und trotz aller Unzulänglichkeit ist Lieben und Geliebtwerden im Leben immer möglich. Und das schenkt dem Leben die Fülle!