Der Vorhang bleibt offen

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Im Matthäusevangelium gibt es einen sehr bemerkenswerten Satz, der in den christlichen Kirchen turnusmäßig an den Kartagen verlesen wird. Nachdem Jesus am Kreuz gestorben war, heißt es dort im Kap. 10,51: „Im selben Augenblick zerriss der Vorhang, der im Tempel das Allerheiligste abschloss, von oben bis unten.“ Geht man davon aus, dass die Evangelien keine Geschichtsstunde sind, sondern Mysterien, das heißt, es sind Ausformulierungen immerwährender Wahrheiten, dann lohnt es sich, diesen Satz näher anzusehen. Der Vorhang im Tempel zu Jerusalem war eine reelle Tatsache. Er bestand aus schwerem, gewebten Stoff und trennte das Allerheiligste vom übrigen Tempel hermetisch ab. Keine Normalsterblichen, die im Tempel ihre Opfer darbrachten, durften je hinter diesen Vorhang blicken, nur der Hohepriester hatte einmal im Jahr Zutritt. Dieser Raum war der „Wohnort Gottes“. Stellt man den Satz aus dem Evangelium der geltenden Praxis im Tempel gegenüber, dann ist der Zusammenhang fast selbsterklärend. Die verhüllende Funktion des Vorhangs ist durch das Leben Jesu unter uns Menschen und durch seinen Tod und seine Auferstehung endgültig beendet. Der Blick auf das Allerheiligste, auf Gottes Gegenwart unter den Menschen, ist freigelegt, für alle, für immer und nach freiem Willen. Jeder Mensch, wer es auch immer sein mag und in welcher Lage dieser sich auch immer befindet, kann sich direkt, ohne Vermittlung, an Gott wenden. Niemand darf sich je wieder das Recht anmaßen, diesen Vorhang schließen zu wollen. Der Text aus den Kartagen ist mir schlagartig ins Bewusstsein zurückgekehrt, als ich in einer deutschen Kirchenzeitung folgende aktuelle Überschrift las: „Vatikan untersagt Laien Taufen und Predigten“! Da kann ich darauf nur noch mit Jo 3,17 reagieren: „Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, damit er die Welt richtet, sondern damit die Welt durch ihn gerettet wird.“

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