Fehlerhaft aber schön

von

Am 9. August 1172, heute vor 850 Jahren, wurde der Grundstein für den Glockenturm von Pisa gelegt, unverwechselbar weltweit bekannt als der „schiefe Turm von Pisa“. Schon beim Bau der dritten Etage begann sich das Bauwerk im weichen Untergrund zu neigen. Man überließ das Bauwerk längere Zeit sich selbst, baute später daran weiter und erreichte von den anvisierten 100 Metern noch eine Höhe von 56 Meter. Und so steht er heute da, der schiefe und doch so wunderschöne Turm, den wir in unserer deutschen Einschätzung vermutlich als Bauruine aber sicher als Architektenschande bezeichnet hätten. Weit gefehlt! Alle gigantischen und himmelstrebenden Bauwerke der Welt erreichen nicht die Berühmtheit dieses überhängenden Turms, den jeder einmal gesehen haben möchte. Damit ist etwas Fehlerhaftes beeindruckender als jedes perfekte Vergleichsobjekt. Das birgt in sich eine interessante Botschaft. Das Perfekte, das wir bei uns und in unserem Tun anstreben, das Fehlerlose, ist nicht unbedingt schön, nicht immer interessant und auch nicht sehr originell. Es fehlt das, was immer auch zur persönlichen Note gehört, die Unebenheit, der Makel, der uns als Individuum auftreten lässt und der unser Werk als Original ausweist. Das, was eine Persönlichkeit einmalig macht, das ist das kleine Muttermal im Gesicht, der ein wenig vorstehende Eckzahn, der besondere Gang, der Spruch, der originell nur aus diesem Munde kommt und die vielleicht etwas verrückten Ideen, die so sonst niemand hat. Der Maler Salvador Dali wusste das sehr gut: „Habe keine Angst vor der Perfektion: du wirst sie nie erreichen.“ Fehler, die offenbaren, dass wir uns noch in der Entwicklung befinden, sind ein urmenschliches Recht, sie offenbaren zugleich die Einmaligkeit unseres Wesens, so wie uns Gottes Schöpfung gedacht hat – als ein Wesen, das immer in der Veränderung lebt. Wie eben auch der Turm in Pisa.

Zurück